Stribs, der Leibpage.

Neujahrs-Humoreske von Teo von Torn.
in: „Über Land und Meer” vom Dez. 1902, Seite 308 und 309


Der Adjutant der Kadettenanstalt, Oberleutnant von Cornelius, der auch das Amt eines Pagengouverneurs versah, hatte soeben den zweiten Tobsuchtsanfall überwunden. Er fühlte sich noch zu angegriffen, um die Dressur sofort wieder aufzunehmen. Wenigstens ein Glas Bier und ein Lachsbrötchen wollte er genehmigen, ehe er sich wieder an die trostlose Aufgabe machte, den zum Pagendienst ausgewählten jungen Tapiren den höfischen Schliff und die besonderen Obliegenheiten des Ehrendienstes beizubringen.

Es waren durchweg Selektaner von tadelloser Führung, glatten Umgangsformen und zum größten Teil aus den angesehensten Familien des Landes — was doch immerhin eine gute Kinderstube voraussetzen ließ. Dennoch machten die Jünglinge ihre Sache schauerlich schlecht. Und je mehr sie sich in voller Würdigung der viel beneideten und ehrenvollen Aufgabe bemühten, desto mehr näherten sie sich dem drastischen Gleichnis, das der verzagte Gouverneur im Abgehen zwischen den Zähnen hervorstieß: sie bewegten sich wie angesäuselte Kellner mit Leichdornen an beiden Hinterflossen.

Es ging ihnen eben hier genau so wie den Menschen, die zum ersten Male einen Zeitungsartikel zu verfassen oder die Bühne zu betreten haben. Während sie sonst vielleicht einen ganz netten Stil schreiben oder sich frei und natürlich zu bewegen wissen, verfallen sie bei dem Bestreben, sich ganz besonders „gebildet” auszudrücken, in die verwickeltsten Konstruktionen und bevorzugen auf den Brettern die Gangart rheumatischer Kraniche. Und ein bißchen Theater ist bei einer großen Neujahrscour, zu der die jungen Herren nun schon seit Tagen herangedrillt wurden, immerhin. Wenigstens was die Komparsen betrifft. Da muß jeder Schritt, jede Distanz genau berechnet werden. Haltung und Bewegung sind für alle Gliedmaßen und in allen Einzelheiten vorgeschrieben, und wehe dem Pagen, dreimal wehe dem Leibpagen, der mit irgendeiner Ungeschicklichkeit aus dem feierlichen Rahmen fällt. Die Hauptverantwortung trifft zwar zunächst den Gouverneur, aber da Unannehmlichkeiten beim Militär weitergegeben zu werden pflegen, so kann sich der betreffende „Patzer” schon gratulieren.

Mithin trat zu dem durch Ehrgeiz heftig überschraubten Bemühen der angehenden Hofherren auch noch die Angst, und diese war es besonders, die dem Reichsgrafen und Edlen Herrn Ludolf von Striebsee, genannt Stribs, blanke Tropfen auf Stirn und Schläfen trieb. An sich schon nicht sehr für ungewöhnliche Motionen, war er durch das stundenlange Hobeln, Stellen und Drehen seiner ansehnlichen, nur noch knapp das Pagenmaß haltenden Körperlichkeit derart echauffiert, daß er nach dem Abgange des Oberleutnants wie ein Bündel Unglück auf einen Schemel sank.

„Kinder,” stöhnte er kläglich, „das lerne ich nie! Das ist eine Arbeit für einen Seiltänzer. Wenn ich die Geschichte wirklich überlebe, dann kenne ich mich nachher in meinen eigenen Armen und Beinen nicht mehr aus.”

„Und das alles, weil du eigensinnig bist, Stribs,” wandte sein Intimus, von Gramka, ein. „Ich habe dir wiederholt gesagt: Melde dich vom Leibpagendienst ab. Wenn du schon mit dem Schleppentragen nicht zurecht kommst, wie soll das mit dem Servieren werden!”

„Na, der Graziöseste bist du auch nicht!” maulte der Dicke, indem er Stirn und Nacken mit seinem Taschentuche frottierte.

„Darauf kommt es nicht an, Stribs. Ich habe immerhin eine gewisse Anlage und werde schon noch dahinterkommen. Dir fehlt aber das Elementarste, die körperliche Disposition. Es ist meine Pflicht, dir das zu sagen, Stribs, weil ich dein Freund bin.”

„Ein großer Schafskopf bist du und ein mißgünstiger Mensch zugleich! Ich soll bloß Spalierobst machen, während du wie ein geschwollener Truthahn um die höchsten Herrschaften herum­scher­wenzelst und dich hinterher mit den blauen Sammetaufschlägen auf dem roten Frack photographieren lassen kannst! Nee, mein Junge, das is nich. Ich mache mit — und wenn ich mir noch einen Ballettmeister und einen Akrobaten bestellen sollte.”

„Mach's wiededenkst, wiedewillst Karline,” warf der andere verletzt hin und wandte sich ab. Aber gleich darauf folgte er wieder dem Rufe seines Freundes.

„Du, Gramka — —”

„Hm —”

„Sei kein Frosch, Menschenkind. Komm her! Wirst mich doch in meinem Unglück nicht verlassen?”

„Wenn du so dumm daherredest —”

„War ja Spaß, Gramka. Im Grunde hast du ganz recht. Ich bin zum Schleppen- und Tellertragen so schwer abzurichten wie ein Nilpferd zum Menuett. Und ob ich einen Wagenschlag im richtigen Moment aufkriege, das ist auch noch sehr die Frage. Gerade wenn es darauf ankommt, klemmt sich so'n Luder. Ich sehe mich schon, wie ich rüttele und drücke, und die hohen Herrschaften sitzen im Kasten und können nicht 'raus. Und dann kein mitleidiger Erdspalt in der Nähe! Gramka, das ist gar nicht auszudenken!”

„Du darfst dir durch solche Schwarzsehereien nicht jedes Vertrauen zu dir selbst nehmen.”

„Vertrauen? Wenn du mit dir erlebt hättest, was ich mit mir schon erlebt habe, dann hättest du auch kein Vertrauen. Während der letzten Ferien auf Schloß Friedrichsberg sollte ich mit Prinzessin Mathilde ausreiten. Einen baumhohen Schinder hatte man mir hingestellt, und die Prinzessin wettet, daß ich ohne Hilfe nicht 'raufkomme. Ich halte natürlich. Und wie ich gerade mit einem forschen Avec den vierbeinigen Chimborasso erklimmen will, merke ich, daß meine Büxen hinten nachgeben. Ich natürlich 'runter wie das Donnerwetter — und dann immerlos Front gemacht. Nicht für 'ne Million wäre ich unter den Augen der Prinzeß noch einmal hochgekraxelt. Kostete mich ein Pfund Schokolade, und die Blamage hatte ich dazu. Fein, was?”

„Gott, da hättest du doch ruhig sagen sollen: eingetretener Hindernisse halber ein ander Mal oder —”

„Jawohl, hinten eingetretener Risse halber! Du kennst die Prinzessin Mathilde nicht, mein Lieber, Ausreden hat sie noch nie gelten lassen. Ein kleiner Satan, sage ich dir! Aber lieb — lieb, Gramka, — — zum Närrischwerden. Wir sind ja zusammen aufgewachsen und erzogen worden. Ich hab's eigentlich nie gut gehabt bei ihr, und ich war froh damals, als ich ins Corps kam und die Pisackerei ein Ende hatte. Aber jetzt — Gramka, du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein wunderherrliches Mädel geworden ist! So viel Dummheiten habe ich in meinem ganzen Leben nicht gemacht, wie die in acht Tagen mit einem anstellt. Und trotzdem . . . Kannst du schweigen, Gramka?”

„Ich kann —”

„Gieb mir die rechte Hand drauf!”

„Hier.”

Der Graf faßte die Hand seines Freundes mit festem Druck und zog ihn dicht zu sich heran.

„Sieh mal, die ganze verfluchte Eiertanzerei hier mache ich doch nur Mathildens wegen mit. Sie hat mir streng aufgegeben, mich zum Leibpagendienst zu stellen, dafür will sie es durchdrücken, daß ich bei dem Galadiner hinter ihren Stuhl komme. Verstehst du jetzt?”

„Ja, Dicker, aber das ändert doch nichts an der Thatsache, daß —”

„— daß ich mich dämlich anstellen und blamieren werde. Sei's darum! Es hilft nichts — ich muß. Und deshalb wollen wir beide probieren. Komm — nimm, bitte, nochmal das Laken um. Wie war's doch gleich — ach so! Immer nur mit dem halben Fuß auftreten — himmlischer Vater! Auf dem Parkett mit dem halben Fuß! Da muß man doch breitschliddern, ob man will oder nicht. ,Die Schleppe muß fest und doch scheinbar locker gehalten werden', — Henckell, Selbach, Brausberg, kommt mal anfassen!”

„I, fällt uns gar nicht ein!” wehrten die Angerufenen ab. „Die Schinderei wird ohnehin gleich wieder losgehen!”

„Kinder, ihr habt aber auch gar keinen Trieb,” schalt der von heiligem Eifer Beseelte. Aber er gab sich zufrieden, als Gramka ihm klar machte, daß ,unter den obwaltenden Umständen mehr das Servieren für ihn in Betracht komme.

„Also schön. Wo ist der Teller mit Wasser? Ich werde ihn dreimal durch die Stube tragen und jedem von euch unter die Nase halten. Und wenn ich dabei auch nur einen einzigen Tropfen verkleckere, dann verpflichte ich mich, den Teller auszutrinken — obwohl ihr alle eure Daumen drin gebadet habt.”

*           *           *

Das glänzende Bild der Neujahrs-Defiliercour war vorüber. Auch für den geschulten Blick des Eingeweihten war alles tadellos verlaufen. Oberleutnant von Cornelius, den während der ganzen Stunden des Hangens und Bangens die Angst schier umgebracht hatte, konnte im Pagenzimmer beruhigt verschnaufen und den jungen Herren seine hohe Befriedigung ausdrücken.

Es war auch wirklich, als wenn die roten Röcke, die weißen Kniehosen, die seidenen Strümpfe und ausgeschnittenen Lackschuhe einen suggestiven Einfluß ausgeübt hätten. Was durch kein Proben mit Bettlaken und Thürklinken hatte erreicht werden können, das war mit einem Male da. Nicht ein einziger hatte es an der erforderlichen Sicherheit und Grazie fehlen lassen.

Für die durch blaue Sammetaufschläge und reicheren Tressenbesatz kenntlichen Leibpagen war aber der Dienst noch nicht zu Ende — und damit auch noch nicht die Sorge des Oberleutnants von Cornelius.

Die Galatafel war noch zu überwinden.

Zum tausendundersten Male schärfte der Gouverneur seinen Zöglingen die allgemeinen Regeln und ihren Spezialdienst ein — von dem Gesichtsausdruck, mit dem ein Wunsch oder Befehl entgegengenommen wird, bis zur Darreichung einer gefüllten Silberplatte. Eine Welt von Schwierigkeiten.

Nach den bisherigen glücklichen Erfahrungen durfte man sich jedoch einiger Zuversicht hingeben. Sogar Ludolf von Striebsee hatte den verängstigten Ausdruck auf seinem gesunden Apfelgesichte verloren. Er bewegte sich mit einer ganz ungewöhnlichen Elastizität und Freudigkeit. Und das hatte seinen Grund nicht nur in der Einwirkung des schmucken Dreß. Beim Spalierbilden vor dem roten Zimmer hatte Prinzeß Mathilde ihn aus ihren munteren schwarzen Satansaugen angeblitzt, und beim Vorbeigehen hatte er deutlich verstanden, wie sie ihm, fast ohne die frischen Lippen zu bewegen, zugeraunt: „'n Tag, Stribs!”

Damit fühlte er sich mobil und ungezwungen wie auf Schloß Friedrichsberg, der Residenz seines fürstlichen Vormundes und zweiten Vaters. Es fehlte eigentlich nur noch, daß die Prinzeß ihn einmal ordentlich geknufft hätte, wie sie das gern zu thun pflegte, dann wäre er hier überhaupt zu Hause gewesen.

Aber es genügte ja auch, daß er sie sehen und ihr dienen durfte nach alter Ritter Weise. Dadurch würde er schon die erforderliche Haltung bekommen.

So ließ sich's auch an, wenigstens zu Beginn der Galatafel.

Trotz der Nähe der allerhöchsten Herrschaften, trotz des blendenden Glanzes von Orden und Uniformen, untermischt von dem mattleuchtenden Perlenschimmer weißer Nacken und Schultern — trotz der rauschenden Musik und der ganzen sinnbetörenden Pracht war und blieb der Leibpage Graf von Striebsee bei voller Contenance.

Erst als die Prinzessin Mathilde, der das Stillsitzen stets sehr bald langweilig zu werden pflegte, sich mit ihm zu unterhalten versuchte — auf ihre Art, — fing er an, unruhig zu werden.

Das mühsam einstudierte und noch mühsamer festgehaltene Kavaliergesicht mit seiner Unternuance von ersterbender Dienstwilligkeit bekam wieder einen Stich ins Unsichere und Verängstigte. Wer konnte denn Ernst und Würde beibehalten, wenn ihm zugeraunt wurde: „Stribs, was hast du dich schön gemacht heute —” oder „Stribs, fall nicht ins Essen —” oder „Stribs, du bist fabelhaft geschickt —”

Je mehr der Aermste — in der allernächsten Nähe eines regierenden Großherzogs! — mit solchen Apostrophen bedacht wurde, desto unbeholfener und zittriger wurde er. Aber er bezwang sich mit schier übermenschlicher Kraft, biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht hinzuhören. Und das ging — aber nicht auf lange.

Eben reichte er eine Platte mit Forellen, als er wiederum die Stimme seiner kleinen Peinigerin flüstern hörte: „Stribs, du machst ein Gesicht wie ein krauses Huhn — lach mal ein bißchen!”

Gleichzeitig fühlte er sich am Unterarm so heftig gekniffen, daß er einen leisen Zischlaut des Schmerzes und eine auffahrende Bewegung nicht unterdrücken konnte.

Das war sein Unglück, denn die Bewegung teilte sich der Platte mit, und einer der blaugesottenen, zu einem kleinen Kränzchen gebogenen Fische rollte herab, schlug zunächst auf den Tellerrand der Prinzessin auf und rollte dann auf deren Staatsrobe.

*           *           *

Auf einen Wink des Tischherrn der Prinzessin Mathilde war Stribs abgelöst worden. Er hatte sich in eine Fensternische des kleinen Malachitsaales verkrochen, den wie im Fieber brennenden Kopf auf beide Arme gestützt, und überlegte nun — nachdem er sich ganz allmählich zu einigem Denken gesammelt —, wie er hier wohl am besten zu einer handlichen Schußwaffe oder im Notfalle zu einem Pfund Cyankali kommen könne.

Noch bevor er darübe ins reine gekommen, hörte er leise Schritte. Aber er rührte sich nicht. Mochte kommen, wer wollte, — ihm war alles Wurst!

In der nächsten Sekunde jedoch fuhr er auf.

„Stribs,” sagte eine wohlbekannte Stimme, „armer Stribs, bist du mir böse? Ich konnte aber wahr und wahrhaftig nicht anders — bei dem Gesicht, das du machtest. Ich wäre geborsten vor Lachen, wenn ich dich nicht hätte knuffen dürfen. Sei wieder gut, Stribs! Die Griesheim hat mich wegen des Kleides hinausbegleitet, und da bin ich ihr ausgerückt, um dich zu suchen —”

„Prinzeß"” rief der Kadett. Es klang wie ein Aufschluchzen.

„S—st, — heul nicht, dummer Kerl! Ich will alles wieder gut machen. Meines Nachbars königlicher Hoheit habe ich bereits vorgekohlt, ich hätte dich versehentlich angestoßen. Er hat seinen Adjutanten beauftragt, ihn bei dir zu entschuldigen für den Anpfiff und davon auch den Gouverneur zu verstänigen. Mehr kannst du nicht verlangen! Und was mich betrifft — nimm mal schnell die Hand vom Gesicht, großer Jung! — ich bin noch gar nicht recht dazu gekommen, dir Prost Neujahr zu sagen. Da . . .”

Stribs fühlte einen warmen kräftigen Druck auf seinen Lippen, und ehe er sich noch besinnen konnte, war Prinzeßchen trotz der langen Courschleppe wie ein Eierquirl davon.

Als die Hofdame Gräfin Griesheim kurz darauf im Sturmschritt den kleinen Malachitsaal passierte, um die ihr abhanden gekommene Prinzessin Mathilde zu suchen, bemerkte sie mit großer Ueberraschung und noch größerer Indignation, daß Stribs, der ungeschickte Leibpage, eine Art von Irokesentanz aufführte.

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